Phänomenologie

Phänomenologie (von griech. phainomenon, Erscheinung, Erscheinendes) - dieses Wort bezeichnet eine philosophische Richtung, die zu Anfang des vorigen Jahrhunderts die intellektuelle Jugend faszinierte - eine Richtung, deren Ideen weit ausstrahlten in zahlreiche andere Wissenschaften von der Physik über die Sozialwissenschaft bis zur Psychologie. Wie kaum eine zweite wissenschaftliche Neuerung hat die Phänomenologie für akademischen Streit gesorgt und den philosophischen Diskurs der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltig bestimmt.

"Zu den Sachen selbst!" Mit dieser einfachen Formel hatte Edmund Husserl eine träge gewordene Forschungstradition neu in Schwung gebracht und zahlreiche junge Talente angezogen. Die Phänomenologie entstand als Opposition gegen die akademische Philosophie, die es in verschiedener Weise lediglich zu Neuauflagen der Konzeptionen der Klassiker brachte, wenn sie sich nicht nur in Gedankenverwaltung erging. Doch es ist eine der Ironien der Geschichte, daß in der zweiten Hälft e des Jahrhunderts ausgerechnet Husserl selbst zum Gegenstand einer akademischen Scholastik wurde, gegen deren Sterilität er sich einst wandte und deren Ausmaß mittlerweile schon bizarre Formen angenommen hat.

Gemeinsam ist phänomenalistischen Auffassungen die Voraussetzung, eine wenigstens begriffliche Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich sei sinnvoll. Erscheinungen (Sinnesdaten, Sinneseindrücke) bilden dem Phänomenalismus zufolge den primären (oder sogar einzigen) Gegenstand der Wahrnehmung und das Fundament der Erfahrungserkenntnis. Die Frage, ob ein Ding an sich (etwa als materieller Gegenstand) wirklich existiert, kann dann noch in unterschiedlicher Weise beantwortet werden:

Es gibt neben den Erscheinungen auch Dinge an sich; allerdings können wir diese allenfalls mittelbar erkennen (indem wir von den Erscheinungen auf sie zurückschließen); die Frage, ob es neben den Erscheinungen wirklich Dinge an sich gibt, ist unentscheidbar; es gibt überhaupt nur Erscheinungen.

Ein Phänomenalismus wird durch eine gewisse Beschreibung von Sinnestäuschungen nahegelegt. Wir glauben oft etwas wahrzunehmen, was es jedoch so nicht oder überhaupt nicht gibt. Einen in Wasser getauchten geraden Stab sehen wir geknickt, obwohl es einen geknickten Stab in diesem Fall nicht gibt. Von dieser Beschreibung ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Auffassung, daß wir - wenn wir uns beim Sehen täuschen - nicht (materielle) Gegenstände sehen, sondern daß uns nur Sinnesdaten gegeben sind. Da zudem täuschende und zuverlässige Sinneserfahrungen für uns qualitativ ununterscheidbar zu sein scheinen, liegt es nahe, allgemein davon auszugehen, daß wir unmittelbar nur Sinnesdaten wahrnehmen, von denen wir allenfalls (problematische) Rückschlüsse auf die Existenz und die Eigenschaften materieller Gegenstände machen können. Es scheint sicherer und einfacher, nicht nur bei täuschenden, sondern bei allen Wahrnehmungen davon auszugehen, daß uns unmittelbar bloß Erscheinungen zugänglich sind. (Manche Phänomenalisten gingen weiter und erklärten die Annahme materieller Dinge für überflüssig.)

Auf den Gedanken, Erscheinungen oder Sinnesdaten bildeten das Fundament des empirischen Wissens, kann man durch die folgende Betrachtung kommen: Aussagen über Phänomenales haftet eine besondere Sicherheit an. Während Behauptungen über materielle Gegenstände niemals vollkommen sicher sein können, kann man mir doch nicht streitig machen, daß mir etwas so oder so erscheint. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung liegt es nahe, das Gebäude des Erfahrungswissens auf der sicheren Grundlage solcher minimalen Gewißheiten zu errichten. Da sich der Phänomenalismus durch verhältnismäßig naheliegende Betrachtungen empfiehlt, verwundert es nicht, daß er sich in der Geschichte der Philos. weiter Verbreitung erfreut.

Im 19. und 20. Jh. wurde ein konstruktionalistischer Phänomenalismus entwickelt. B. Russell war bestrebt, die gesamte geistige und körperliche Wirklichkeit aus Sinnesdaten logisch zu konstruieren. Mit größerer Präzision konstruierten R. Carnap und N. Goodman phänomenalistische Systeme. Bei ihnen steht jedoch noch deutlicher als bei Russell das Konstruktionsinteresse im Vordergrund; die Wahl einer phänomenalistischen Basis ist demgegenüber zweitrangig und wird in ihrer Relativität kenntlich gemacht.

Die zahlreichen Spielarten des Phänomenalismus sind mit einer Reihe von Einwänden konfrontiert worden. Man hat in Zweifel gezogen, ob die vorausgesetzte Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich wirklich klar ist, und gefragt, ob der Phänomenalismus nicht Erscheinungen in unzulässiger Weise vergegenständlicht. Ferner ist bestritten worden, daß der Phänomenalismus eine zureichende Analyse der Wahrnehmung, insbesondere der Trugwahrnehmung liefert. Schließlich ist die Auffassung der Erscheinungen als privater Gegenstände im Geist fragwürdig, da unter dieser Annahme unerklärlich wird, wie man über Empfindungen sprechen kann.

Literatur
J. L. Austin: Sinn und Sinneserfahrung, 1975.

H. Barth: Philos. der Erscheinung, 2 Bde., 1947/59.

R. Carnap: Der logische Aufbau der Welt, 1928.

N. Goodman: The Structure of Appearance, 1951.

H. Kleinpeter: Der Phänomenalismus, 1913.

B. Russell: Unser Wissen von der Außenwelt, 1926 (Orig. 1914).